Jahresrückblick: Ein Jahr Singapur – Woran Du merkst, dass Du immer noch nicht völlig akklimatisiert bist
Wie im vorherigen Beitrag schon angekündigt:
Woran Du merkst, dass Du immer noch nicht völlig akklimatisiert bist:
- Du kriegst kein perfektes Selfie hin.
Asiaten haben da ja überhaupt keine Scheu – ausgerüstet mit Selfiesticks wird stundenlang in die Handykamera posiert, mit Schmollmund, hüpfend, alberne Posen einnehmend. Die fertigen Bilder werden dann mit Filtern bearbeitet, bis niedliche Hasenohren, Glitzer und ein schmeichelndes Licht hinzugefügt sind.
Als Deutsche ist Dir dieses Phänomen völlig fremd. Ein Selfiestick ist für Dich ein absolutes „No-Go“, beim Selfie kriegst Du nie den richtigen Winkel hin, und wenn es darum geht, Deine fertigen, natürlich perfekt gestylten Fotos in den Sozialen Medien zu teilen, bekommst Du ein mulmiges Gefühl. Stichwort Datenschutz! Der ist den Singapurern allerdings völlig egal, hier wird munter veröffentlicht und geteilt. Selbst der Kindergarten postet wöchentlich auf Facebook und per E-Mail-Newsletter Bilder der spielenden Kinder, in Deutschland völlig undenkbar. - Du sehnst Dich nach Billig-Discountern zurück.
Und zwar nicht allein wegen der Preise und der Auswahl – sondern vor allem wegen des Kassiervorgangs. Das Tempo, mit denen hier selbst in großen Supermarktketten an der Kasse bedient wird, reicht andernorts aus, um Nagellack aufzutragen. Wie schön waren doch immer die kleinen Wettbewerbe im deutschen Discounter, bei denen Du versucht hast, die Waren schneller wieder in den Einkaufswagen zu räumen, als die Verkäuferin sie scannt. Und Du hast jedes Mal verloren. Hier stehst Du auf jeden Artikeln wartend neben der Kasse, denn die Servicekraft muss jeden Artikel viermal umdrehen, konzentriert auf dem Display tippen, ihn zerstreut begutachten, ohne Ankündigung weglaufen, ein Schwätzchen mit der Kollegin halten oder einen Schluck Wasser trinken. Selbst wenn außer Dir niemand weit und breit zu sehen ist: plane mindestens zehn Extra-Minuten für den Bezahlvorgang ein!
Außerdem musst Du jedes Mal wieder erklären, dass Du keine Plastiktüte möchtest. Auch nicht für die Milch. Auch nicht für die Tomaten. Selbst wenn Du mit bereits aufgefaltetem Jutebeutel parat stehst: der Griff zur Tüte folgt automatisiert. Und bist Du mal eine Sekunde abgelenkt, ist es schon zu spät…
Der erste englische Satz Deines Kindes ist demzufolge: „No bag, please!„ - Du möchtest recyclen.
Am besten alles, so wie Du es aus Deutschland gewohnt bist. Doch die Stadt gibt Dir keine Chance. Zwar stehen im Keller ein paar verschiedenfarbige Tonnen, in denen Papier, Plastik (welche Sorten, bleibt unklar), und der Rest einsortiert werden sollen. Doch nach ein paar Wochen hast Du herausgefunden, dass die Müllabfuhr schlichtweg alles zusammen ins große Auto kippt. Glas stellst Du trotzdem tapfer jedes Mal extra hin, denn das Geklirre der durch den Müllschacht aus dem 20. Stock über Dir herabsausenden Flaschen nervt Dich.
Im Abstellraum sammelst Du in einer Kiste Elektroschrott und leere Batterien, um sie beim nächsten Heimatbesuch mitzunehmen und dort fachgerecht zu entsorgen.
(Mehr dazu bei Laura von „Heute ist Musik“: „Eine Familie wandert aus: Nachhaltig Leben in Singapur„) - Du behauptest immer noch, dass Polizei, Krankenwagen und Feuerwehr „Tatütata“ machen.
Denn die schöne Quarte der deutschen Sirenen ist doch viel schöner und vor allem leichter nachzumachen, als das hiesige Gedüdel. - Du fährst mit dem Fahrrad.
Zwar lässt Dein Enthusiasmus nach den ersten Wochen nach, in denen Du mehrfach Dein Leben riskierst hast, um ein paar Meter weit zu fahren – doch Du lässt nicht locker. Tagsüber und außerhalb der Rush Hour wagst Du Dich nach wie vor auf die Straße, bist aber trotzdem allein auf weiter Flur. Zwar stehen an jeder Ecke gleich mehrere Ausgaben von Leihfahrrädern, doch zeichnet sich der Einheimische nicht unbedingt durch seine Fahrtüchtigkeit auf einem Zweirad aus. Wie auch? Trotzdem hältst Du daran fest, dass auch Dein Kind die große Kunst des Radelns erlernen soll, und rufst bei Passanten und Eltern regelmäßig Erstaunen hervor, wenn Ihr das Laufrad herausholt. - Du wählst immer noch die falsche Kleidung aus.
In Singapur schwitzt man. Und zwar 24 Stunden täglich. Jeder tut es, und es ist völlig normal. Bei Beginn einer Chorprobe tupfen sich alle Mitsänger und auch der Dirigent erst einmal mit dem immer mitgeführten Handtuch die Schweißperlen von der Stirn, die allein vom fünfminütigen Fußmarsch von der Bushaltestelle bis zum Probenraum entstanden sind.
Inzwischen hast Du zwar brav immer ein Jäckchen dabei, wenn Du weißt, dass Du Dich länger als eine halbe Stund in einem geschlossenen Raum aufhalten wirst – doch vergisst Du regelmäßig, dass Kleidung in Farben, in denen Schweißflecken sehr offensichtlich sind, nicht die beste Wahl sind. - Du kannst Dich nicht an den Gedanken gewöhnen, eine Haushaltshilfe zu haben.
Ein sogenannter „Helper“ gehört in Singapur in einem Haushalt mit Kindern quasi zur Grundausstattung. Es macht das Leben ja auch deutlich leichter: lästige Arbeiten wie Putzen, Einkaufen, Kochen kannst Du getrost abgeben, einen Babysitter brauchst Du nicht mehr, und für relativ kleines Geld könntest Du Dir endlich ein wenig Unterstützung im Haushalt holen. Doch eine Philippina oder Indonesierin in einem fensterlosen, unklimatisierten und 4 m² großen Abstellraum in Deiner Wohnung einzupferchen, sie sechs Tage die Woche bis zu 14 Stunden täglich arbeiten zu lassen, sie nur alle zwei Jahre für ein paar Tage in den Urlaub zu schicken und sie dann auch noch ausreichend zu führen und zu beschäftigen, behagt Dir nicht, das fühlt sich zu sehr nach „Feudalherrschaft“ an. - Du lässt Deinem Kind am Wochenende Freizeit.
Und verbaust ihm aus asiatischer Sicht damit sämtliche Chancen für die Zukunft. Denn am Wochenende ist ja schließlich endlich Zeit für die Weiterbildung: Schwimmtraining, Geigen- und Ballettunterricht, IQ-steigernde Frühförderung, Schachkurse: samstags und sonntags wird gebüffelt. Täglich findest Du im Briefkasten Werbung für Musikschulen und Mathe-Zentren, die damit werben, am Samstag bereits um 7 Uhr morgens zu öffnen. Vom Balkon aus beobachtest Du mit einem Kaffee in der Hand die Heerscharen von Eltern, die mit akkurat frisierten Kinderchen am Wochenende in der Sprachschule gegenüber einmarschieren, während Dein Kind noch im Schlafanzug auf dem Boden sitzt und irgendwas bastelt.
Am Strand und in den Parks triffst Du an freien Tagen nur auf Westler, denn dass das Wochenende für einen Familienausflug genutzt werden kann, ist für Einheimische eine völlig absurde Vorstellung. - Du sehnst Dich nach deutschem Service.
Kein Witz – wer auch immer den Begriff der „Servicewüste Deutschland“ erfunden hat, war noch nie in Singapur. Zumindest in Restaurants und Cafés könnten sich die hiesigen Bedienung gleich mehrere Scheiben von einer guten deutschen Servicekraft abschneiden. Und das, obwohl es Personal en masse gibt, denn Personalkosten sind niedrig und Arbeitswillige gibt es mehr als genug. Doch letztendlich stehen in einem eher mäßig besuchten Lokal fünf KellnerInnen an der Theke und glotzen in ihre Handys, während Du rufend, winkend, Handstand machend und singend versuchst, deren Aufmerksamkeit auf Dich zu ziehen, da Du endlich wahlweise bestellen oder bezahlen möchtest.
Steht endlich Essen auf dem Tisch – und zwar meist nur eines, denn warum sollten denn die drei Personen, die dort sitzen, gleichzeitig essen wollen? -, musst Du gut aufpassen: machst Du zu lange Pausen beim Essen, wird Dein Teller sofort abgeräumt. Noch während Du kaust und/oder das Besteck in der Hand hältst. Gemütlich sitzen zu bleiben, ist nicht drin, kaum sind die Teller abgetragen, wird Dir unaufgefordert die Rechnung vor die Nase geknallt. Zur Bezahlung kommt nicht etwa ein freundlicher Ober vorbei, sondern Du musst an die Kasse gehen, wo wieder das Supermarkt-Prinzip gilt: es dauert. - Du vermisst Berge. Und frische, kühle Morgenluft.
So schön Schwimmen, Tauchen, Yoga und alle sportliche Betätigung hier auch sein mag: Du vermisst die Natur. Zwar gibt es auch in Singapur schöne Nationalparks, doch mehr als ein zweistündiger Aufenthalt dort ist nicht drin, da Du anschließend dringend heruntergekühlt werden musst. Wandern im eigentlichen Wortsinn geht auch nicht, Dein gewohnt strammes Gehtempo legst Du nach ein paar Versuchen ab und spazierst wie die Einheimischen nur noch gemächlich über perfekt aufgeräumte und ausgeschilderte Wege.
Der höchste Berg, den Du im letzten Jahr „bestiegen“ hast, war ein kleines Hügelchen auf einer malayischen Insel, und Du kannst Dir nicht einmal mehr vorstellen, wie sich feste Wanderschuhe an den Flipflop-verwöhnten Füßen anfühlen mögen.
Und trotzdem träumst Du von einer Herbstwanderung in den Alpen, von kühler Morgenluft, Vogelzwitschern, einer Brotzeit am Gipfel und einem Fetzen-Muskelkater am Abend. - Du kannst Dich nicht an Grenzkontrollen gewöhnen.
Als Kind der 1980er Jahre kannst Du Dich zwar an die aufregenden Grenzübergänge beim jährlichen Gardasee-Urlaub erinnern, doch reist Du seit bald dreißig Jahren ohne Reisepass durch Europa.
In Singapur dauert es in jede Himmelsrichtung vierzig Minuten, bis Du die Landesgrenze erreicht hast. Ab dann wartet eine Grenzkontrolle auf Dich. Und dort heißt es für alle: Anstehen. Zum Teil stundenlang. Selbst Pendler, die tagtäglich von Malaysia nach Singapur ein- bzw. ausreisen, müssen für die Passkontrolle anstehen. Europa, Du bist toll!
- Du kannst Dich nicht an einige von Singapurs Leibspeisen gewöhnen. Beim Geruch der heißgeliebten Stinkfrucht wird Dir immer noch übel, lieber würdest Du Fußnägel kauen, als auch nur einen Löffel der schleimigen Durian zu probieren. Bis Du verstanden hast, dass Ice Kachang Mutprobe, sondern ein typisches singapurisches Dessert ist, hat es eine Weile gedauert. Aber wer isst denn allen Ernstes geschabtes Eis (also: gefrorenes Wasser), das mit diversen Zucker-Sirups in allen Farben des Regensbogens übergossen und dekoriert mit Maiskörnern (!) und roten Bohnen (!!) serviert wird?! Glibberiger Sojabohnen-Pudding, garniert mit grün eingefärbten Reisbällchen, Bittergurkengemüse, dass genauso schmeckt wie es klingt – Du hast alles probiert und nicht für gut befunden. Und das sind nur die vegetarischen Gerichte – Du möchtest Dir gar nicht vorstellen, wie Schweinehirn, Riesenkrabben, die im ganzen auf den Teller kommen oder Hühnerfüße schmecken… Shiok, sag ich da!
- Du kannst Dich nicht daran gewöhnen, dass sich Musiker auf der Bühne selbst beklatschen. Als brave deutsche Sängerin hast Du nach über dreißigjähriger Chorerfahrung verinnerlicht, dass Musiker, die auf der Bühne stehen, nicht klatschen. Niemanden. Weder für sich, noch für den Dirigenten, noch für sich selbst. In Singapur dagegen bricht am Ende jedes Konzerts tosender Applaus auf – und zwar unter den Mitwirkenden. Ganz gleich, ob Laienchor oder das staatliche Symphonieorchester: alle machen mit. Und die deutschen Chor- oder Orchestermitglieder sind deutlich auszumachen, stehen sie doch peinlich berührt in der klatschenden, johlenden und stampfenden Masse.
- Du staunst darüber, wie gut das Zusammenleben der Kulturen und Religionen hier funktioniert. Denn Du verfolgst in der deutschen Presse, wie schwer sich Dein Heimatland mit der Völkerverständigung tut. Du freust Dich, dass Dein Kind ohne jegliche Berührungsängste aufwächst, und würdest Dir wünschen, dass jeder kleine Mensch erfahren dürfte, wie groß und bunt die Welt und wie vielfältig und wunderbar die Menschen sind, ohne nach Aussehen, Glaubensrichtung oder Herkunft zu urteilen.
Denn ein Jahr im Vielvölkerstaat Singapur macht noch längst keine Einheimische aus Dir – so leicht kann man nicht aus seiner Haut. Aber vielleicht kannst Du versuchen, aus jeder Kultur das beste in einer persönlichen Melange zu vermischen?
5 Replies to “Jahresrückblick: Ein Jahr Singapur – Woran Du merkst, dass Du immer noch nicht völlig akklimatisiert bist”
Puh, liebe Nadine, was machst du dir für eine Mühe, deine täglichen Leser zu unterhalten.
Ich meine jetzt deine Zusammenfassungen, interessant zu lesen, aber Zeit äufwändig zu verfassen, Respekt!!!!!!!
Oder vielleicht sprudelt ja auch alles nur so aud dir raus,,,,,,,,
Ich lese es mit Interesse, morgens pünktlich um achte zum Frühstück!
Danke für alles!!!!
Für uns hier ist es unerträglich heiß,
38 grfühlte grad, Rollläden sind unten und man hängt so rum bis es abends um 22 Uhr kühler wird!
Lea ist im Ammersee schwimmen, Laura schreibt einen Blog über ein Familienhotel in Oberstdorf und gondelt auf dem Nebelhorn herum.
Wir freuen uns auf die Ostsee, Meer , Wolken und Wellen, aber es soll Quallen und Blaualgen geben!
Euch Herzensgrüße über viele Gewässer hinweg, passt gut auf euch auf!
Love
Gaby
Liebe Gaby,
ich freue mich so sehr über so positive Resonanz. Norman schimpft aber auch mit mir, dass ich immer viel zu viel schreiben würde. Aber mir fällt das Schreiben leicht, das meiste tippt sich fast von selbst.
In Deutschland ist es im Vergleich zu Singapur deutlich wärmer momentan, außerdem haben wir zum Glück mehr Klimaanlagen. Ich hoffe, Ihr könnt Euch wenigstens an der Ostsee ein wenig abkühlen!
Viele Grüße und habt einen schönen Urlaub,
Nadine
Liebe Frau Fröhlich,
machen Sie sich um die Quallen keine zu großen Gedanken. Wenn es nach denen geht, sind sie auf dem freien Meer unterwegs. Meines Wissens, sind nur die Kompaßquallen https://de.wikipedia.org/wiki/Kompassqualle etwas schmerzhaft. Dann kommen noch ab und an Delphine vor. Auf die Burschen würde ich achten, alleine, weil sie Seltenheit in der Ostsee haben. Ich wünsche Ihnen unbekannterweise einen angenehmen Urlaub und denken Sie bitte an die, die daheim schwitzen! *lach*
Viele Grüße,
Franziska
Guten Morgen!
Vielen Dank für diese Innenansicht! Wir vergessen hier teils, das auch nach XX Jahren jeder „irgendwoher“ kommt. Deine Irritationen verstehe ich, und finde es mutig, das du es überhaupt ansprichst! Falls ihr nicht weiter auf der anderen Erdkugel (die gar nicht so kugelig ist *lach*) zieht, würde ich dich gerne mal knuddeln. Für all die Erfahrungen und die Ehrlichkeit, du versteckst dich nicht. Das gefällt mir.
..bei der Durian würde ich auch streiken. Und zwar, nachdem im Roman XYZ die Auswirkungen beschrieben wurden. Erst schmeckt sie, danach kotzt man. Das ist nicht grad das, was man Leibspeise nennt! *schallend lache*
Liebe Sonntagsgrüße,
Franziska
P. S. Wir haben hier endlich mal Wind. Normalerweise geht er mir auf die Nerven nach 10 Jahren Norddeutschland. Heute begrüße ich ihn, habe schon Hand- und Maschinenwäsche durch, und dann…dann…darf bitte mal Regen runterkommen. So viel Gießen kann ich nämlich nicht! O.O
Liebe Franziska,
ähnliche Durian-Erfahrungen habe ich hier bei gewissen Mitmenschen bereits erlebt – deshalb: ich verzichte!
Genieß‘ den Wind!
Nadine